Durchatmen! Der deutsche Finaltraum ist geplatzt, weil es der Mannschaft im Halbfinale nicht gelang, an ihrer Leistungsgrenze zu kratzen. Sie unterlag Gastgeber Frankreich mit 69:73. Jetzt geht es darum, diese Niederlage zu verdauen und noch einmal alle Reserven im Spiel um die Bronzemedaille zu aktivieren. Der Kontrahent Serbien hinterließ am Donnerstag einen stärkeren Eindruck als das DBB-Team und unterlag erst in der Schlussphase dem Goldfavoriten USA mit 91:95. Die letzte Partie von Bundestrainer Gordon Herbert, der nach den Olympischen Spielen zum FC Bayern München wechselt, ist gleichzeitig die Neuauflage des WM-Finales des letzten Jahres.
Die französische Verteidigung nicht geknackt
Hat der gute Start in die Partie in Kombination mit dem sicheren Sieg in der Vorrunde die deutschen Basketballer in zu großer Sicherheit gewiegt? Nach einem starken Start mit Dreiern der Schlüsselspieler Dennis Schröder und Franz Wagner kontrollierte Deutschland das erste Viertel und ging mit einer 25:18-Führung in die erste Pause. Im zweiten Abschnitt wurden dann aber große offensive Schwierigkeiten augenfällig. Frankreich spielte Mann-Mann-Verteidigung sank aber in den Positionen abseits des Balles extrem weit ab, so dass ein Laie auf den ersten Blick hätte vermuten können, dass es sich um eine Zonenvariante handele. Am Spielgerät selbst war der Olympiagastgeber extrem aggressiv und ging wie schon am Vortag die französischen Frauen im Viertelfinale gegen Deutschland immer wieder auf Steals. So leistete sich der Weltmeister, der bis dato besser auf den Ball aufgepasst hatte als alle anderen Teams, bereits in der ersten Halbzeit neun Ballverluste. Die Mannschaft wirkte gehemmt und traf nicht einmal 30 Prozent ihrer Dreipunktewürfe. Es spricht für die Moral der Herbert-Schützlinge, dass sie am Ende noch einmal zurückkamen, aber insgesamt fehlte es an Ideen und offensiver Variabilität gegen die französische Verteidigung.
Das beste Spiel des Turniers
So enttäuscht wie die Deutschen waren auch die Serben nach ihrer Halbfinalniederlage gegen die USA. Allerdings kann die Mannschaft von Svetislav Pesic für sich reklamieren, eine Superleistung abgerufen zu haben. Serbien kontrollierte den Offensivrebound der athletischen Amerikaner und leistete sich insgesamt nur fünf Ballverluste. Das war die Pflicht. In der Kür traf das Team um NBA-MVP Nikola Jokic jede Menge schwierige Würfe, so dass die Vereinigten Staaten auf herausragende Leistungen von zwei erfahrenen Superheroen angewiesen waren. LeBron James glänzte mit seinem zweiten Triple Double bei Olympia, und Stephen Curry tütete neun Dreier ein, um am Ende 36 Zähler aufzulegen. Im letzten Abschnitt ging den Serben nach einer 76:63-Führung dann der Sprit aus, so dass die Sensation, nach der es lange ausgesehen hatte, ausblieb. Dennoch war es das beste Spiel des Turniers. Qualität und Unterhaltungswert waren extrem hoch.
Es wird eine Kopf- und Kraftfrage
Bereits am Samstag um 11 Uhr müssen die beiden enttäuschten Halbfinalunterlegenen wieder ran. Aber es gibt noch die Bronzemedaille zu gewinnen. Die besseren Chancen hat die Mannschaft, der es gelingt, erfolgreicher mental und physisch zu regenerieren. Was ist schwerer zu verdauen, eine Niederlage, bei der man unter seinen Möglichkeiten geblieben ist und damit eine große Chance vertan hat, oder eine Niederlage, bei der man eine fast perfekte Leistung geboten hat und am Ende trotzdem den NBA-Stars unterlegen war?
Beide Halbfinalbegegnungen waren extrem intensiv. Dennoch haben nach meinen Eindrücken die Serben mehr emotionale und körperliche Energie verbrannt. Jokic spielte 38 Minuten und fuhr am Ende wie ein Teil seiner Teamkollegen auf den Felgen. Aber wenn es den Serben trotz dieses Substanzverlustes gelingt, an die Leistung vom Donnerstag anzuknüpfen, und es Deutschland nicht schafft, sich zu steigern, wird der Weltmeister Paris ohne Medaille verlassen.
Kochs Nachschlag
Die Olympischen Spiele – das hat die aus meiner Sicht zu pompöse Eröffnungsfeier unterstrichen – werden neben dem wichtigsten Sportereignis der Welt auch immer mehr zu einem großen Showspektakel. Deshalb ist das Aufeinandertreffen der Gastgeber um ihren jungen Superstar Victor Wembanyama mit dem glamourösen Showact Dream Team die perfekte Inszenierung. So sehen es auf jeden Fall die französischen Fans. Die deutschen und serbischen Anhänger werden das Endspiel angesichts der Verläufe und Ausgänge der Halbfinalbegegnungen auch mit Wehmut verfolgen.
Stefan Koch war zwei Jahrzehnte lang Headcoach in der ersten Liga und wurde 2000 und 2005 als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Er erreichte mit seinen Teams regelmäßig die Playoffs und trat sieben Mal im Europapokal an. Sechs Mal nahm er am TOP FOUR teil und gewann 2000 mit Frankfurt den Pokal. Zudem war der Hesse drei Mal Headcoach des All-Star-Games.
Koch arbeitet aktuell als Kommentator bei Dyn, war früher auch als Experte und Kommentator für SPORT1, Premiere, Sportdigital und MagentaSport tätig, sowie als Scout für die NBA. Seine Kolumne „Kochs Nachschlag“ findet sich bei uns regelmäßig hier im News-Center rechts unter der Rubrik "Kochs Nachschlag". Außerdem produziert er gemeinsam mit Oliver Dütschke im Zweiwochentakt den Podcast „Talkin‘ Basketball“, der auf allen gängigen Plattformen abrufbar ist.